„Die Saiten, die den König krönten“ – Todestag von Scotty Moore am 28. Juni 2016

Zum Todestag von Elvis Presleys Gitarrist Scotty Moore blicken wir zurück auf das Leben des stillen Pioniers, der den Rock’n’Roll mitdefinierte.

Stephan
Autor und Betreiber von Elvis-Presley.net. Elvis-Fan seit über 35 Jahren.
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Scotty Moore - Todestag
Scotty Moore bei der Aufnahme in die Rock and Roll Hall of Fame, New York, 06. März 2000. © Foto: John Mathew Smith

Wenn heute – neun Jahre nach seinem Tod – der 28. Juni in Fan­kreisen begangen wird, gedenkt man nicht nur des Tages, an dem Scotty Moore im Alter von 84 Jahren in Nashville starb, sondern eines Mannes, der mit nur wenigen Akkorden die Popwelt erschütterte. Keith Richards brachte es einst auf den Punkt: „Alle wollten Elvis sein – ich wollte Scotty sein.“ Diesem kaum bescheidenen Geständnis des Rolling-Stones-Gitarristen liegt ein einfacher Grundsatz zugrunde: Ohne Scotty Moore wäre die Gitarre nicht das Leit­instrument des Rock ’n’ Roll geworden.

Frühe Jahre zwischen Baumwollfeldern und Radioträumen

Winfield Scott Moore III erblickt am 27. Dezember 1931 im beschaulichen Gadsden, Tennessee, als jüngster von vier Brüdern das Licht der Welt. Die Familie lebt vom Baumwollanbau, und die harte Feldarbeit prägt seine Kindheit. Doch immer klingt Musik mit: Bei Familienfesten greifen Onkel und Brüder zu Mandoline, Fiddle oder Gitarre.

Scotty bastelt sich zunächst ein Instrument aus einer Zigarrenschachtel, bis er mit acht Jahren genug Geld für eine gebrauchte Gibson beisammenhat. Früh imitiert er die Läufe von Chet Atkins, saugt Einflüsse aus Country, Blues und Jazz auf – Grundlagen für jenen Stil, der später den Rockabilly prägen wird.

Mit 16 wird ihm die Kleinstadt zu eng. Er fälscht sein Alter, tritt in die U.S. Navy ein und begleitet Abend für Abend Bordtanzabende zwischen den Einsätzen vor China und Korea. Dort verfeinert er sein Fingerpicking, improvisiert mühelos über jedes Lied und gewinnt das Selbstvertrauen, das ihn künftig auszeichnet. 1952 endet seine Dienstzeit ehrenhaft: militärisch gereift, musikalisch hungrig – bereit, sein Glück im nahegelegenen Memphis zu suchen.

Starlite Wranglers und eine schicksalhafte Studiobegegnung

In Memphis stellt Scotty Moore seine Country-Formation Starlite Wranglers zusammen. Kurz darauf stößt Bassist Bill Black hinzu, und gemeinsam tingelt man durch die Honky-Tonks (Bar der Südstaaten) entlang des Mississippi. Der Sound ist rau, aber voller Energie. Sam Phillips von Sun Records wird auf Moore aufmerksam – dessen präziser, gleichzeitig druckvoller Anschlag hebt sich von vielem ab, was damals in Memphis zu hören ist. Als sich ein junger, schüchterner Lastwagenfahrer namens Elvis Presley zu einem Vorsingen anmeldet, bittet Phillips Moore, „sich den Jungen mal anzuschauen“.

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Where No One Stands Alone

Am Abend des 05. Juli 1954 entsteht im Sun-Studio mit „That’s All Right“ die erste gemeinsame Aufnahme von Presley, Moore und Black. Als der Song tags darauf durch Dewey Phillips bei WHBQ-Radio ausgestrahlt wird, ist die Reaktion überwältigend. Moores schnörkelloses, blitzschnelles Spiel auf seiner goldfarbenen Gibson ES-295 verleiht Presleys Gesang jene elektrisierende Spannung, die aus der Melange von Country, Blues und Hillbilly etwas völlig Neues entstehen lässt: den Rockabilly.

Scotty Moores Gibson ES 295 Gitarre
Scotty Moores Gibson ES 295 Gitarre. Foto: © Shutterstock

Blue Moon Boys: Roadtrips, Radiowellen und erste Hits

Unter dem Namen Blue Moon Boys“ tourt das Trio unermüdlich durch den amerikanischen Süden. Scotty Moore, stets in Anzug und Krawatte, übernimmt weit mehr als nur den Gitarrenpart: Er organisiert Auftritte, führt die Buchhaltung, kümmert sich um die Technik und füllt den Tank des Band-Cadillacs. Disziplin ist für ihn ebenso selbstverständlich wie musikalische Präzision.

Mit den ersten RCA-Hits wie „Heartbreak Hotel“ und „Hound Dog“ explodiert die Popularität von Elvis Presley – und mit ihr wächst die Bedeutung von Moores Gitarrenspiel. Sein Stil verbindet den Fingerpicking-Sound eines Merle Travis mit Country-typischen Bendings und jazzigen Akkordfarben. Legendär ist sein Solo in „Jailhouse Rock“: eine pointierte Folge wuchtiger Powerchords, die Kritiker Dave Marsh später als einen der Geburtsmomente des Hard-Rock-Riffs bezeichnet.

Blue Moon Boys: Scotty Moore, Elvis, Bill Black
Blue Moon Boys: Scotty Moore, Elvis, Bill Black

Hollywood, RCA und das Ende des goldenen Dreiecks

Mit dem Wechsel zu RCA Victor betreten die Blue Moon Boys eine neue musikalische Sphäre. Die Aufnahmen finden fortan in professionellen Studios in New York oder Nashville statt – getrennt durch Glaswände, flankiert von großen Orchestern. Scotty Moore bleibt dabei der kreative Gegenpol zum zunehmend kontrollierten Presley-Imperium unter der Führung von Colonel Tom Parker.

Doch Spannungen nehmen zu: ausbleibende Tantiemen, finanzielle Ungleichheiten und das Gefühl, durch neue Session-Gitarristen ersetzt zu werden, belasten das Verhältnis. 1958, kurz vor Elvis Presleys Einzug in die Armee, ziehen Moore und Bassist Bill Black die Reißleine und steigen aus.

Trotzdem bleibt Moore im musikalischen Umfeld präsent: Er kehrt immer wieder ins Studio zurück, spielt unter anderem die markanten Gitarrenparts in „Little Sister“ und „(Marie’s the Name) His Latest Flame“. Auch in fünf Elvis-Filmen ist er zu sehen – meist mit einer charakteristischen Gibson L-5 um die Schulter, als stummer, aber unverkennbarer Bestandteil des Elvis-Sounds.

Ingenieur, Produzent und Mentor in Nashville

Nach den Jahren an Elvis’ Seite findet Scotty Moore eine neue Aufgabe hinter den Kulissen: Er arbeitet als Toningenieur in Sam Phillips’ modernem Studio in Nashville und produziert unter anderem für Dolly Parton, Roy Orbison, Jerry Lee Lewis und Ringo Starr. Am Mischpult entwickelt er eine Leidenschaft dafür, klangliche Möglichkeiten auszuloten – vom markanten Slapback-Echo bis hin zu vielschichtigen Mehrspuraufnahmen.

Doch mit dem frühen Tod von Bill Black im Jahr 1965 zieht sich Moore zunehmend aus dem öffentlichen Musikbetrieb zurück. Die Country-Szene verändert sich, Gitarrensounds werden härter und voluminöser – Moores präziser, nuancierter Stil wirkt zunehmend aus der Zeit gefallen. Stattdessen widmet er sich zeitweise einem Hi-Fi-Installationsunternehmen, baut Studiotechnik in Villen rund um Nashville ein – und bleibt der Musik auf diese Weise weiter treu.

Das „’68 Comeback Special“ – ein letzter Bühnenmoment

1968 meldet sich Elvis Presley persönlich: Für ein einstündiges Fernseh-Special („Elvis“ NBC 68 Comeback Special) bei NBC will er seine alten Weggefährten noch einmal um sich scharen. Scotty Moore sagt zu – trotz langer Bühnenpause. In schwarzer Lederjacke sitzt er schließlich neben Elvis auf dem legendären Rundpodest, die imposante Gibson Super 400 CES im Arm. Mit vertrauter Präzision spielt er sich durch Songs wie „Tiger Man“ und „Trying to Get to You“. Für Millionen Zuschauer wird der Auftritt zur Offenbarung: Der Geist des frühen Rock’n’Roll lebt – und Scotty Moore verleiht ihm seine Stimme.

„Elvis“ NBC 68 Comeback Special – „Tiger Man“

Späte Ehrungen und literarische Rückschau

In den 1990er-Jahren rückt die Gitarrenwelt ihren lange übersehenen Wegbereiter wieder ins Rampenlicht. Keith Richards lädt Scotty Moore in sein Londoner Heimstudio ein, wo das Album „All the King’s Men“ entsteht – eine Hommage, bei der Größen wie Jeff Beck, Mark Knopfler und Joe Walsh dem Gitarristen ihre musikalische Reverenz erweisen.

Im Jahr 2000 folgt die Aufnahme in die „Rock and Roll Hall of Fame“ in der Kategorie „Sidemen“, 2007 wird Moore zudem in die „Musicians Hall of Fame“ aufgenommen. Das „Rolling Stone-Magazin“ zählt ihn 2011 zu den 30 größten Gitarristen aller Zeiten.

Bereits 1997 erscheint seine AutobiografieScotty & Elvis: Aboard the Mystery Train„, verfasst in Zusammenarbeit mit dem Journalisten James L. Dickerson. Darin gewährt Moore einen offenen Blick hinter die Kulissen des Sun Studios und schildert mit trockenem Humor und selbstkritischer Distanz das Leben auf Tour – mit wenig Schlaf, geringen Gagen, aber unvergesslichen Momenten.

Letzte Jahre, Krankheit und Abschied

Bereits seit den 2000er-Jahren machen Scotty Moore gesundheitliche Probleme zunehmend zu schaffen: Ein Herzinfarkt, Nierenleiden und Diabetes zwingen ihn 2009 dazu, sich endgültig von der Bühne zurückzuziehen. Am 28. Juni 2016 stirbt er im Alter von 84 Jahren in seinem Haus in der Nähe von Nashville, wie seine Stieftochter Gail Poll bekanntgibt.

Die letzten Tage verbringt Moore umgeben von seinen Gitarren, goldenen Schallplatten und alten Fotografien aus den Fünfzigerjahren – Erinnerungsstücke an eine musikalische Epoche, die ohne ihn nie dieselbe gewesen wäre.

Vermächtnis eines stillen Revolutionärs

Scotty Moore hat die E-Gitarre nicht erfunden – aber er zeigte einer ganzen Generation, welches erzählerische Potenzial in sechs Saiten steckt. Seine Soli gelten bis heute als Paradebeispiele musikalischer Zurückhaltung: nie effekthascherisch, stets im Dienst des Songs, getragen von jenem charakteristischen, federnden Groove, den spätere Bands wie die Beatles oder die Stray Cats genau studierten.

Ohne Moores rhythmisches Gespür wäre „Mystery Train“ nicht jene rollende Klanglokomotive, „Heartbreak Hotel“ kein bluesgetränkter Klageton und „Jailhouse Rock“ nicht das Ur-Riff für unzählige Rockgitarristen. Keith Richards brachte es auf den Punkt: „Alle wollten Elvis sein – ich wollte Scotty sein.“

Fazit

Mit Scotty Moore verliert die Musikwelt einen Gentleman der Saiten, der nie laut sprach, aber dessen Gitarre umso deutlicher redete. Seine Begleitungen machten Elvis Presley zur epochalen Figur – doch sein eigenes Genie blieb stets hörbar: in jedem nachschwingenden Akkord, in jeder Slap-Delay-Spur, in jedem Rockabilly-Break, das heutige Gitarristen noch üben. Der Mann aus Tennessee hat bewiesen, dass bahnbrechende Kunst oft entsteht, wenn Talent, Timing und ein offenes Mikrofon in einem kleinen Studio zusammen­kommen. Seine Töne bleiben – für alle Zeiten.

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